Stillstand

Sei ruhig, geh in dich und bleib dort, denn die Welt ist jetzt Stillstand. Von Moskau bis zur Kamtschatka, von Sidney  bis zum australischen Outback, von  Borneo und den Philippinen  bis Alaska – als hätte eine Fee mit ihrem Zauberstab die rasende Fahrt gestoppt und alles in Schlaf versetzt, wie im Märchen vom Dornröschen. Der rasende Zug hat angehalten. Wir sind noch verwirrt, denn niemand war auf eine solche Situation vorbereitet. Das erste Mal steigen wir aus, vertreten uns ein wenig verlegen die Füße und reiben uns die Augen. Vielleicht erscheint manchem die Welt, in die er jetzt tritt, sogar fremd, weil sie mit der Welt, die er aus dem bewegten Zug gesehen hat, gar nichts gemein zu haben scheint. Erst langsam wird die neue Realität erklärt und begriffen. Und der eine oder andere überlegt, wie jetzt zu handeln ist. Was kann man tun? Wäre das nicht eine Gelegenheit, Dinge, die schon lange anstehen, in Angriff zu nehmen? Ist es nicht Zeit, alles, was wir fasziniert vom Fortschritt als unvermeidbares Übel akzeptiert haben, zu überdenken? Und das, was sich vor unseren Augen gerade abspielt, das was die Welt gerade ein wenig aus den Angeln hebt, nicht nur als Katastrophe, sondern als Chance zu begreifen? Der Zug steht, das erste Mal seit einem Jahrhundert vielleicht. Ist das nicht die beste Gelegenheit zum Entladen? Sollten wir nicht die Gunst der Stunde nutzen, wenn der Zug endlich steht, uns von Überflüssigem zu trennen und uns achtsam umsehen, welche neuen Qualitäten wir in die Zukunft mitnehmen wollen? Ist nicht die beständige Jagd nach Innovation, und das Neue, das der Markt uns  anbietet und zum unabdingbaren Teil unseres Lebens erklärt, nur ein  Ersatz für Ereignisse, für wirkliches Leben? Wir ersticken uns selbst mit Sachen, von denen wir eine Intensivierung unseres Lebens erwarten und sind außerstande zu entscheiden, was Leben und was Ersatz für Leben ist. Wir tun Dinge, die uns keinen Spaß machen, um Dinge zu erwerben, die eigentlich auch keinen Spaß machen, zumindest nicht lange, um uns dann einer wieder anderen Ablenkung zuzuwenden. Wir sind Tag und Nacht den Medien ausgeliefert, die auf uns eindreschen, um Produktionen am Laufen zu halten, deren Produkte niemand braucht, die aber einige wenige unerhört reich machen. Ist es nicht Zeit, dass sich die Wirtschaft wieder an dem orientiert, was wir wirklich brauchen und nicht an der Profitmaximierung und einem unablässigen Wachstum? Ist es sinnvoll, lebensnotwenige Güter aus dem Ausland zu beziehen, weil die Erzeugung dort ein paar Cent weniger kostet? Ist es sinnvoll, die Natur für die Herstellung von Dingen, die im Müll landen und als solche ein zweites Mal unserer Umwelt schaden, zu zerstören, wie wir es gerade tun? Ich weiß, dass viele Menschen jetzt solche Gedanken haben. Ich weiß aber auch, dass es keine wirklichen Änderungen geben wird. Die, die so denken, sind zu wenige, um politisch wirksam zu werden. Der Großteil der Menschen lässt sich einwickeln in dieses rosa duftende Zuckerlpapier aus falschen Versprechen, irregeleiteten Wünschen und der kollektiven Lüge, dass die Zukunft nur mit Produktionssteigerung und Wirtschaftswachstum einhergehen kann.

Vielleicht lässt der krasse Widerspruch zwischen der unumschränkten Technikbegeisterung vor hundert Jahren  im Gedicht des Italieners Filippo Tomaso Marinetti, und deren reale Auswirkungen auf unser heutiges Leben ein klein wenig ahnen, wie sich unsere heutigen Träume und Entscheidungen auf die Zukunft auswirken werden.
Marinetti war auf jeden Fall davon überzeugt, dass ihn das Auto in eine bessere Welt fahren wird.

Filippo Tomaso Marinetti 1876 bis 1944
Mitbegründer des Futurismus

An das Rennautomobil (1912)

Feuriger Gott aus stählernem Geschlecht,
Automobil, das fernensüchtig
geängstet stampft, in scharfen Zähnen das Gebiß!
Japanisch-fürchterliches Untier, schmiedefeueräugig,
mit Flammen und mit Ölen aufgenährt,
nach Horizonten gierig und nach Sternenbeute,
des Herzens teuflisches Töff-Töff befrei ich dir
und deine riesigen Pneumatiks
zum Tanze auf der Erde Straßen.
Ich lasse den metallenen Zügel los und du
stürmst trunken in befreiende Unendlichkeit!…
Bei deiner Stimme bellenden Lärm
fügt sich die sinkende Sonne deinem Schritt
und stärker wird ihr blutiges Beben
am Rande des Horizonts …
Dort jagt sie hin im Walde – schau!…
Daß ich in deiner Macht bin, schöner Teufel – sei’s!
Über die Erde, taub trotz allen Widerhalls,
unter dem Himmel, blind trotz aller Sterne,
sporn ich mein Fieber an und mein Verlangen
mit Messerstößen in die offenen Nüstern!…
Und immer wieder richte ich mich auf,
daß ich an meinen bebenden Hals sich schmiegen fühle
des Windes frische, flaumig-weiche Arme.
Ihr Berge mit dem Mantel blau von Frische,
ihr schönen Flüsse unterm Mondlicht atmend,
Ebenen voll Dunkelheit! Ich sause euch vorbei
im Jagen meines tollen Ungetüms. Ihr meine Sterne,
hört ihr sein Rennen, seines Bellens Lärm,
seiner metallnen Lungen unaufhörlich Atmen?
Ich geh die Wette ein … mit euch, ihr Sterne!
Schneller! Noch schneller! Ohne Ruh und Reue!
Die Bremsen los! Ihr könnt nicht? Brecht sie denn,
daß sich des Motors Schwung verhundertfacht!
Hurrah! Die niedre Erde fesselt mich nicht mehr.
Endlich befrei ich mich und fliege schon
berauscht hinein in alle Überfülle
des Sternenstroms im großen Bett der Nacht.

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3 Gedanken zu „Stillstand“

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