Ein Spiegel der Gesellschaft

Was wir in den letzten Wochen erlebt haben, ist bezeichnend für die vielfältigen Spannungsmomente und Verwerfungen, die es nicht nur geopolitisch auf diesem Planteten gibt. Speziell in den Personen der Handelnden in den einzelnen Ländern wird dies höchst pointiert erkennbar. Vom strikten Parteikurs mit Totalüberwachung in China, wo der allmächtige Xi Jinping mit einem Wink seines kleinen Fingers Millionen Menschen dirigiert, über die von Partikularinteressen oder schlichter Inkompetenz motivierten Vorgehensweisen in Brasilien oder in Amerika, wo ein Teil der Bevölkerung kopfschüttelnd den Unsinn zur Kenntnis nimmt und der andere Teil fanatisch für den Unsinn eintritt. Vom Glauben an eine Strafe Gottes, wie sie ein fundamentaler katholischer Erzbischof in der Schweiz zu erkennen glaubt, bis hin zur religiös motivierten Ignoranz. So geht ein Gutteil der COVID 19 Fälle in Frankreich auf ein Treffen von Evangelikalen Christen in Straßburg zurück, die das Virus dann im ganzen Land verbreitet haben. In Südkorea lassen sich ebenfalls fast alle Fälle auf eine einzige Sekte zurückführen. Der Gottesstaat Iran ist besonders von Covid 19 betroffen, weil sich die religiösen Führer strikt gegen die Schließung von Moscheen und schiitischen Pilgerstätten sträubten. Sie stellten ihren Glauben über die Vernunft der Mehrheit, ja sogar über die Staatsgewalt. Erst nach heftigen Diskussionen konnte sich Präsident Hassan Ruhani durchsetzen, aber da waren schon Tausende infiziert. Dazu kommen weltweit noch die unterschiedlichen Sichtweisen diverser Autokraten, die nach eigenem Gutdünken handeln und deren Ignoranz auch durch wissenschaftliche Erkenntnisse nicht beeinflusst werden kann. Im  Gegensatz dazu  die, die auf  Vernunft vertrauen und einen möglichst selbst bestimmten Umgang mit der Situation wollen, wie etwa in Schweden. Wenn man weiter hinein zoomt, kommt man zu denjenigen in der Gesellschaft, die sich in der Rolle des Nonkonformisten gefallen und alle getroffenen Maßnahmen in Zweifel ziehen. Man sieht die Krisengewinnler, die sofort einen Webshop mit überteuerten Masken auf die Beine stellen, neben denen, die das tun was zu tun ist und nicht lange darüber reden. Es gibt die Wiederkäuer, die jeden Schwachsinn, den sie irgendwo hören, sofort unüberprüft in den sozialen Medien verteilen, und es gibt diejenigen, die an ihrer Selbstüberhöhung arbeiten indem sie bewusst Angst und Panik schüren.
Andererseits ist speziell in Europa die Bereitschaft, solche Restriktionen hinzunehmen und die gesamte Wirtschaft lahm zu legen, um die Schwächsten in der Gesellschaft zu schützen, als Ausdruck einer fortgeschrittenen Zivilisation zu werten. Nicht mehr und nicht weniger.
Was jetzt die Rückkehr zur Normalität betrifft, so zeigt dies ebenfalls die gesamte Bandbreite vom Ringen um wissenschaftlich fundierte Fakten bis hin zu den fiktiven Glaubenssystemen diverser Verschwörungstheorien. Was die wissenschaftlichen Erkenntnisse betrifft, auf die wir bauen oder die unsere Entscheidungen stützen sollen, haben wir in den vergangenen Monaten die Erfahrung gemacht, dass sich Wissenschaft durchaus kontroversiell zu Wort meldet. Das liegt in der Natur der Sache. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse sind im Fluss. Wissenschaft basiert darauf, dass man eine Theorie erstellt und sie dann in der Praxis überprüft. Vieles im Zusammenhang mit diesem Virus wissen wir noch nicht, daher gibt es verschiedene theoretische Erwägungen, die praktisch überprüft werden müssen, um sie zu beweisen oder zu falsifizieren. Das gilt grundsätzlich auch für alle Argumente, die die Rückkehr zur Normalität betreffen. Wenn heute in einer Zeitung, ein Arzt als Argument für die Notwendigkeit der raschen Öffnung, die hohen Selbstmordraten, die durch die Isolation bedingt sein sollen mit den Corona-Toten gegenrechnet, dann lässt sich das leicht überprüfen. Selbst ich, mit meinen bescheidenen Mitteln kann mit einer einfachen Nachfrage bei Fachleuten der Krisenintervention diese Frage beantworten: In den letzten Monaten gab es keine erhöhte Anzahl von Suiziden, eher das Gegenteil war der Fall. (Das ist typisch für Krisensituationen und war zu erwarten, obwohl sonst in den  Monate Februar /März mit den meisten Suiziden zu rechnen ist*).  Wenn man dann noch die verminderte Todeszahl durch Verkehrs- oder/und Arbeitsunfälle dazu rechnet, dann kann man dieses Argument als unrichtig verwerfen. Viele andere Faktoren kennen wir aber nicht, wir können sie nur durch jeden weiteren Schritt, den wir setzen, nach und nach einer Überprüfung unterziehen. Was uns in Erinnerung bleiben sollte, ist die Erkenntnis, dass wir trotz höchst unterschiedlicher Positionen in der Gesellschaft einen Konsens finden können und dass wir alle nicht unfehlbar sind.

 

 

*Was  nicht heisst, dass vermehrte Selbstmorde in der Folge vermeidbar sind. Man kann aber mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen, in welcher  gesellschaftlichen Schicht das geschehen wird. Ein Pierer wird sich wegen 800 000 Euro, die er jetzt selber für seine Motohall bezahlen muss nicht suizidieren.  Auch der Chef der AUA  wird nicht in dieser Statistik erscheinen. Ein Kleinstunternehmer, der draufkommt, dass er dem Staat grad einmal 500 Euro Unterstützung wert ist eher schon. Aber als Argument für eine Lockerung der Einschränkungen ist das untauglich, der Schaden ist schon angerichtet.

 

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