Um in der Welt überleben zu können, bedarf es verschiedener mentaler Fähigkeiten. Eine davon ist Kontingenz. Unter Kontingenz versteht man die Fähigkeit kausale Verbindungen und Korrelationen zwischen Objekten herzustellen. Etwa jene, dass ein Kleinkind, das im Zoo in den Löwenkäfig krabbelt, in Gefahr ist. Kontingenz ist eine wichtige Voraussetzung für Theorienbildung. Wir erkennen Zusammenhänge und Verbindungen und bilden Glaubensvorstellungen und Überzeugungen die unser Weltbild formen. Dass wir Kontingenzurteile fällen können, also die Überzeugung bilden, dass x und y irgendwie miteinander in Verbindung stehen, bedeutet aber nicht, dass wir damit immer recht haben. Nehmen wir ein Beispiel: Die Beobachtung, dass dem Sonnenaufgang die Morgenröte vorausgeht, hat bei den Griechen zu der Überzeugung geführt, dass Eos, die schöne Göttin der Morgenröte, die Aufgabe hatte, jeden Morgen den kommenden Tag anzukündigen. Das tat sie, indem sie mit ihrem Wagen im Osten aus dem Ozean auftauchte. Ihr Bruder Helios, die Sonne, folgte ihr dann etwas später – auf seinem eigenen Wagen. Heute ist diese Theorie überholt. In allen Kulturen gibt es solche Kontingenzurteile, die höchst unwissenschaftlich und letztlich falsch sind, aber für die Gesellschaft trotzdem nützlich erscheinen, weil sie der Unwissenheit und der damit verbundenen Unsicherheit eine vermeintliche Sicherheit entgegenhalten, die über Generationen ihren Zweck erfüllte.
Heute ist die Lage aber nicht anders. Wenn wir irrige Glaubenssätze auf Grund falscher Kontingenzurteile bilden, kann das dazu führen, dass wir uns Desinfektionsmittel injizieren, in der falschen Annahme, dass Desinfektionsmittel, die man trinkt oder sich in die Venen spritzt, vor Viren schützen. Oder dass wir den hochgiftigen Oleander essen, weil der amerikanische Präsident das auf Grund eines falschen Kontingenzurteils für richtig hält. Aber insgesamt wirkt sich die Fähigkeit Kontingenzurteile zu bilden trotz einer hohen Fehlerquote evolutionär positiv aus. Wer die besten Kontingenzurteile bildet, darf seine Gene an die folgenden Generationen weitergeben, bei denen mit den falschen ist es vielleicht besser so…..
Wenn heute in den Tageszeitungen steht und der ORF ebenfalls berichtet, dass ein sattsam bekannter Baumeister im Bad gestürzt ist und sich dabei die Oberschenkelgelenkskapsel gebrochen hat, dann erfüllt das das Herz des Mediziners mit Heiterkeit. Die Oberschenkelgelenkskapsel kann man sich nicht brechen. Das ist die bindegewebige Umhüllung des Hüftgelenkes, die auf Grund ihrer Elastizität einen weiten Bewegungsumfang erlaubt. Sie kann bei extremer Gewalteinwirkung zerreißen, aber nicht brechen. Gemeint ist wohl eine Fraktur des Oberschenkelhalses, eine der häufigsten Verletzungen im höheren Alter oder eine Hüftverrenkung, die aber eher selten ist. Aber das steht jetzt in allen Zeitungen: Bruch der Oberschenkelgelenkskapsel. Wissen ist in unserer Gesellschaft asymmetrisch verteilt. Die Kultur, der wir angehören und die uns alle verbindet, ist in ihrer Gesamtheit ein Wertekanon, der sich aus den Interaktionen und der Kognition jedes einzelnen Teiles der Gesellschaft ergibt. Aber nur die Gesellschaft als Ganzes ist im Besitz all der Werte und all des Wissens, dass die Kultur ausmacht. Jedes Mitglied der Gesellschaft hat einen mehr oder weniger großen Anteil an diesen Werten und Kenntnissen, je nach Intelligenz und Lebenserfahrung. Ein Journalist muss nicht dumm sein, wenn er Oberschenkelgelenkskapselfraktur in die Zeitung schreibt, er hat halt nur einen Teil des Wissens der Gesellschaft und der medizinische Teil fehlt ihm. Er bildet sich ein Urteil mit ungenügendem Wissen und verbreitet das über Medien. Was man ihm vorhalten kann, dass er sich nicht bei Fachleuten erkundigt. Letztendlich ist es aber unerheblich, ob der schrullige Richard Lugner sich die Oberschenkelgelenkskapsel oder den Oberschenkelhals gebrochen hat. Es betrifft nur ihn. Etwas anderes ist es, wenn ein hoher Prozentsatz der Gesellschaft sich zu den Themen Coronavirus und Macht ein Kontingenzurteil bildet ohne die mentalen Voraussetzungen für ein solches Urteil zu haben und das dann verbreitet. Die sozialen Medien sorgen dafür, dass jeder die Ergebnisse seiner Denkprozesse unmittelbar einer mehr oder weniger breiten Öffentlichkeit kundtun kann und jede auch noch so verschrobene Idee ihren Markt findet und fleißig weiterverbreitet wird. Das, was dann angereichert mit Vermutungen und weiteren falschen Kontingenzurteilen im Netz kursiert, findet bei emotional entsprechend gestimmten Denkverweigerern einen fruchtbaren Boden und bildet die Antithese zu unserer gemeinsamen Kultur der Aufklärung und des wissenschaftlichen Denkens. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, ist ein geflügeltes Wort antiken Ursprungs und wird Sokrates zugeschrieben. Es sei allen Verschwörungstheoretikern, die jetzt meinen, auf Grund der Corona- Maßnahmen staatlicher Willkür ausgeliefert zu sein oder befürchten, dass Bill Gates sie mit einem implantierten Chip fernsteuern will, empfohlen, zu überlegen, ob sie nicht einfach zu wenig über die Welt wissen um ein Kontingenzurteil zu fällen oder ob sie einfach nur dumm sind.
Das Problem ist, dass dummen Menschen die kognitiven Fähigkeiten fehlen das eigene dumm sein zu erkennen. …. Allerdings sehr fein und auch unterhaltsam geschrieben. Danke dafür.
Liebe Grüße
„Benita“
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