Der Beruf Arzt bedingt, dass man sich mit der Komplexität und der Einzigartigkeit menschlicher Beziehungen auseinandersetzen muss. Nur wenige Berufe bieten die Gelegenheit, täglich unmittelbar zu erleben, was Menschen inspiriert, motiviert und was sie verbindet oder was sie trennt. Nur wenige Berufe sind somit besser geeignet, etwas über sich selbst zu lernen. Wenn man mehrere Jahrzehnte lang jeden Tag mit so vielen Menschen Gespräche führt, die häufig die Lebensumstände, Hoffnungen, Wünsche, Sorgen und Ängste berühren, liefert man sich zwangsläufig einem beständigen Prozess des Einordnens und Hinterfragens aus. Dabei ist man gezwungen, anhand der gesellschaftlich relevanten Themen seinen eigenen Standpunkt immer wieder neu zu überdenken und sein Gefühl für das, was in einer Gesellschaft wichtig ist, immer wieder neu zu kalibrieren. Ich schicke das voraus, weil es meine Sicht der Dinge betrifft. Ein Anderer mag eine andere Sicht haben -vielleicht ein Polizist, ein Kaufmann oder ein Arbeitsloser. Aber niemand kommt umhin, sich mit Politik und Politikern zu befassen. Denn was die Menschen erleben -Sorgen, Wünsche, Gesundheit und Krankheit – ist nicht unwesentlich von politischen Entscheidungen und deren sozialen Folgen abhängig. Schlagwort: Armut macht krank. Man lernt, dass Politiker in vielen Bereichen der Gesellschaft ihren Einfluss dazu verwenden, ganz andere Interessen zu vertreten als die, die sie vorgeben. Vor allem im Gesundheitssystem war das oft mehr als offensichtlich. Ich denke unter anderem an das Versprechen der letzten ÖVP/FPÖ Regierung, dass die Zusammenlegung der Krankenkassen eine Milliarde für die Versicherten bringen wird. Gerade wurde in einer parlamentarischen Anfrage geklärt, dass diese Reform keine Milliarde für die Versicherten gebracht hat. Im Gegenteil, 65 Millionen mehr an Personalkosten sind veranschlagt. Allerdings wurden die Machtverhältnisse in der Sozialversicherung – und das war die wahre Absicht – dramatisch zu Gunsten der Unternehmer verschoben. Da hat die neue Volkspartei offensichtlich erfolgreich Lobbyismus für die Unternehmer betrieben indem sie das Volk getäuscht hat. Das alles war vorauszusehen und ich habe das in meinem Blog vor 3 Jahren genauso vorhergesagt. (Siehe ganz unten) Wir nehmen solche „Unstimmigkeiten“ inzwischen als selbstverständlich hin, weil es uns eigenes Denken und einen eigenen Standpunkt erspart und weil wir immer wieder aufs Neue daran glauben wollen, dass Politiker, denen wir unsere Stimme geben, alle Probleme für uns lösen. Der französische Schriftsteller, Abenteurer und Resistance – Kämpfer Andre Malraux zitiert in seinen Anti- Memoiren einen Priester, der beschreibt, was er aus dem jahrzehntelangen Hören der Beichte gelernt hat: „Zunächst einmal, die Leute sind sehr viel unglücklicher als man denkt…… und dann…die Quintessenz von allem ist, dass es keinen Menschen gibt, der erwachsen wäre..“ Wir alle wissen, dass damit eine Wahrheit ausgedrückt wird. Wir haben die peinlich-naiven E-Mails der ehrbaren Politiker, die im Zusammenhang mit der Ibiza Affäre und mit den politischen Postenbesetzungen zutage kamen, noch in Erinnerung. Spätestens da hätten sich viele Österreicher darüber klar werden können, dass Politiker nicht klüger, besser oder erwachsener sind wie wir alle und dass sie von den gleichen Wünschen und Bedürfnissen gesteuert sind, vielleicht sogar mehr als der Durchschnitt. Es geht nämlich immer um dasselbe: Es geht immer um verschiedene menschliche Bedürfnisse emotionaler, sozialer und finanzieller Art, deren Befriedigung durch eine gerechte Verteilung der Ressourcen in einem Staat durch die Politik geregelt werden soll. Dazu haben wir Parteien, also Interessensvertretungen geschaffen. Diese Parteien neigen aber dazu, sich zu verselbstständigen. Sie werden einerseits dogmatisch, was ihre Standpunkte betrifft und andererseits verlogen und kriminell, wenn es um Machterhalt und Stimmenoptimierung geht. Es entsteht eine Kaste von parteiabhängigen, mit allen Wassern gewaschenen Berufspolitikern, die den Kontakt zur eigenen Basis verlieren, weil sie mehr Gemeinsamkeiten mit den gleichen Berufspolitikern in anderen Parteien haben als mit der eigenen Parteibasis. Diese politischen Kreise rekrutieren sich auch bei allen Parteien aus bestimmten Schichten. Die unteren Gesellschaftsschichten und die Frauen sind deutlich unterrepräsentiert. (So finden sich im Deutschen Bundestag 165 Juristen, aber nur 2 Hausfrauen und in Österreich ist aus der Schicht der unselbstständigen Arbeiter/innen unter 183 Parlamentariern ein einziger Mann als Vertreter einer der größten gesellschaftlichen Gruppen in der Gesamtbevölkerung – ca. 1 Million – im Parlament) *1. Zudem besteht die Gefahr, dass sie sich von den Beziehungen zu den Reichen und Mächtigen, die sich aus ihrer Position ergeben, verführen lassen. (Wir erleben das in Österreich in einem exorbitanten Ausmaß mit Namen wie Graf, Pierer, Glock, Horten… etc. etc.) *2
Sobald Parteien Schlüsselstellen im Staat mit eigenen Gefolgsleuten besetzt haben, die im Zweifelsfall die Partei über das Staatswohl stellen, fangen sie an, die Definitionshoheit darüber, was überhaupt noch ein gesellschaftlich relevantes Thema sein darf und was nicht, zu beanspruchen. Medienmacht wird zur Steuerung der öffentlichen Wahrnehmung von Problemen oder Pseudoproblemen genutzt. (siehe Migrationsthema) Damit ist den Ideen und Bedürfnissen der Basis, also des Großteils der Bürger, der Weg ins Parlament abgeschnitten. Denn bis Ideen von der Basis der Parteien bis ins Parlament gelangen, sind sie meist bis zur Unkenntlichkeit verwässert oder haben sich in Luft aufgelöst, weil mächtige Lobbyisten ihren Einfluss geltend machen, um sie zu verhindern. (Paradebeispiel: Naturschutz und Straßenbau). Dort – im Parlament – werden nur noch Themen verhandelt und in Gesetze gegossen, die Parteien bzw. führende Politiker bzw. deren „Berater“ für maßgeblich erachten und die sie dann auch über die Medien der eigenen Basis als relevant verkaufen.
Es gibt eine Geschichte, die besagt, sobald man einen Beamten um Klopapier fragt, wird er sich für zuständig halten und in Hinkunft muss man ihn immer fragen, wenn man Klopapier haben will. Genau das ist mit unseren Parteien der Fall. Sie fühlen sich allein berufen und legitimiert, alles zu entscheiden und sind dann plötzlich nicht mehr unsere Abgesandten, sondern – in vollkommener Umkehr der ursprünglichen demokratischen Idee – unsere Herrscher. Sie reißen so viel Macht an sich wie irgend möglich und schrecken nicht davor zurück, alle ihnen dann zur Verfügung stehenden Machtmittel gegen Widerstände aus der eigenen Basis einzusetzen. Und je mehr Macht sie haben, umso bedrohlicher wird das Arsenal, dessen sie sich bedienen können, um Unbotmäßigkeit zu unterdrücken. Ein aktuelles Beispiel dafür: Am 10. September hat die ÖVP eine Wahlveranstaltung im Design- Center in Linz abgehalten. Die Gelegenheit wollten Tierschützer nützen, um auf ein schon längst fälliges Verbot von Spaltböden in der Schweinehaltung hinzuweisen – nicht mehr und nicht weniger. Eine dafür angemeldete Demonstration wurde aus nichtigen Gründen verboten. Deshalb verteilten zwei Tierschützer in Schweinekostümen Flugzettel zum Thema. Ein Recht, das sie laut Verfassung haben. Das half ihnen aber nichts, sie wurden von der Polizei wie Schwerverbrecher in Handschellen abgeführt und erst sechs Stunden später, als die ÖVP- Wahlveranstaltung vorbei war, wieder freigelassen. Mit ihnen wurden drei andere abgeführt, die sich erdreistet hatten, die Polizeiaktion zu filmen. Bezeichnend ist auch, dass die Medien darüber faktisch nicht berichtet haben. Angesichts solcher Vorgänge – vom Volk verliehene Macht wird eingesetzt, um berechtigte und wichtige Themen zu unterdrücken, weil Profitinteressen gefährdet werden – kommen einem Zweifel, ob die demokratischen Kontrollstrukturen überhaupt noch funktionieren.
Mit dem Thema Pandemie werden wir uns voraussichtlich noch einige Zeit, vielleicht ein Jahr, vielleicht länger, beschäftigen müssen. Schuld daran ist eine Kommunikationsstrategie, die vollkommen in die Hose gegangen ist. Ich habe am 10. März 2020 in meinem Blog geschrieben, je mehr Menschen sich infizieren, desto mehr Mutationen werden entstehen und desto länger und gefährlicher wird das Ganze. Dass wir jetzt schon 1 ½ Jahre damit befasst sind, habe ich damals auch nicht geahnt. Dazwischen liegt eine lange Zeit, in der von der Politik in Österreich sehr viele Fehler begangen wurden. (In Deutschland nicht unähnlich). Zuerst wurde dramatisiert (Bald wird jeder jemanden kennen…) dann wurde abgewiegelt. Der Sommer 2020 verstrich, ohne dass man sich auf die für den Herbst von den Fachleuten vorausgesagte zweite Welle vorbereitet hätte und auch die Impfstoffbestellung wurde fahrlässig verzögert und finanziell unterdotiert. Die Schuld schob man dann einem Beamten in die Schuhe.
Obwohl im Kanzleramt unter der Führung von Gerald Fleischmann 60 Personen nur für die Propaganda bezahlt werden, wurde die Kommunikation über die Pandemie mit dem Volk auf dem Niveau von Volksschülern geführt und nicht wie in Schweden auf Augenhöhe. Von Seiten der Politik kamen keine glaubwürdigen Informationen. Weder konnte man sich über die Impfstoffe einigen noch wurden Informationen so aufbereitet, dass alle Gruppen der Gesellschaft ausreichend Möglichkeit fanden, sich eingehend zu informieren. Alles schien inszeniert und verkam zur eitlen Selbstdarstellung. Mehr als pandemische Binsenweisheiten kamen bei der Bevölkerung nicht an. Verwirrende Erlässe und Vorschriften ließen viele das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Behörden und überhaupt der Wissenschaft verlieren. Die türkise Regierung erwies sich als reine Schönwetterregierung, unfähig reale Probleme zu lösen.
Als Ersatz für Wissen trat dann das aus Weltverschwörungstheorien, Halbwissen und von verantwortungslosen Politikern bewusst gestreuten Unwahrheiten zusammengestöpselte „Geschwurbel“. Das wurde über das Internet rasend schnell verbreitet, in den Echokammern von Facebook, Instagram und Twitter mit den halbvergorenen Ausscheidungen selbsternannter Fachleute vermischt und von Privatsendern wie Servus TV, die eine Chance sahen, ihre Reichweite mit diesen provokanten Themen zu erhöhen, verbreitet. Die zum Teil gefährlich falschen Informationen und die Verharmlosung aus dem Internet haben dazu geführt, dass eine unglaubliche Verunsicherung entstand und selbst gut ausgebildete Menschen wie Lehrer nun glauben, dass Frauen unfruchtbar werden, wenn sie neben einem Geimpften stehen (sic!). Mir bleibt oft der Mund vor Staunen offen, mit welcher Vehemenz Menschen Dinge behaupten und verteidigen, die sie weder verstehen noch belegen können und die sie nur vom Hörensagen kennen. Im oft zitierten Schweden, mit einer sehr offenen und egalitären Gesellschaft ist der soziale Impakt dieses Unfugs wesentlich geringer als in Österreich, wo ein gewisser Obskurantismus von der FPÖ gefördert wird. Herbert Kickl, ein ehrgeiziger kleiner Mann, der sich nach Jahren des Gehorsams endlich an die Spitze seiner Partei gekämpft hat, widerspricht mit seinem esoterisch/arisch angehauchten Aussagen allen Fachleuten und schürt damit Misstrauen und Chaos. Fast fugenlos fügt sich in dieses Spiel sein oberösterreichischer Unterläufel Manfred Haimbuchner, der sich, auf Kickl angesprochen, windet wie ein Wurm. Trotz eigener, schwerer Erkrankung, die er nur mit Mitteln der Medizinwissenschaft überlebt hat, widerspricht er aus Parteiräson allen Fachleuten und verkündet, die Impfung sei kein „Gamechanger“ und plappert was von individueller Freiheit. Als ob die individuelle Freiheit einen von jeglicher Verantwortung für das Allgemeinwohl entheben könnte. Das ist brachialer Egoismus und muss auch so benannt werden. Seine Aussagen sind ein Beweis dafür, dass Corona nicht nur den Geschmackssinn, sondern auch das Rückgrat zerstört. Resultat: Wir liegen beim Impfen weit hinten und werden das nicht aufholen. Die Zahlen steigen grade wieder, das Virus hat ein ausreichendes Reservoir von Menschen ohne Immunität und wird sich deshalb immer weiterverbreiten und zahlreiche neue Mutationen können entstehen, wie bei der Grippe, die immer wieder neue Impfungen nötig macht. Vielleicht wird das verständlicher, wenn ich noch hinzufüge, dass wir in Zukunft ein paar Grippemutanten weniger haben, weil die durch die weltweiten Lockdowns ausgestorben sind. Das Coronavirus ist aber um ein Vielfaches infektiöser und wird nicht so schnell verschwinden, auch mit der Impfung nicht. Dazu waren wir einfach nicht schnell genug und dafür sind zum Teil Politiker wie Trump, Bolsonaro, Herbert Kickl und anfangs auch Boris Johnson verantwortlich und in deren Gefolge die Impfgegner mit ihren Schauermärchen. Wir haben es verbockt und wir werden dafür noch bezahlen.
Klimakatastrophe ist ein Wort, das hierzulande niemand schreckt, weil wir noch etliche Schritte von der wahren Katastrophe entfernt sind – in Zeiträumen gesprochen, etwa eine Generation. Auch dabei sind politische Parteien als maßgebliche Lobbyisten verantwortlich, dass die wahre Dimension des Problems verzerrt wird. Dafür gibt es weltweit Beispiele, aber auch hier genügt der Blick ins eigene Land. Herbert Kickl behauptet, dass der Rückgang der Gletscher eine „Auswirkung der letzten Eiszeit“ sei. Was das genau bedeuten soll und was er damit meint, bleibt unklar, denn die Aussage ist ein Widerspruch in sich. Das ist aber für seine Anhänger unwesentlich. Es erstaunt einen, dass so ein kleiner Gau-Politiker, der nicht einmal sein Philosophiestudium geschafft und keinerlei wissenschaftliche Kompetenz hat (oder hat er das mit der Eiszeit im Selbststudium herausgefunden?), den klügsten Köpfen der Welt, die sich seit Jahrzehnten mit der Thematik befassen, widerspricht. Aber das zeigt, es geht gar nicht um Wahrheit. Kickl kann nicht so dumm sein, das selbst zu glauben und wenn, dann hat diese Partei ein Problem. Ähnlich sind die Aussagen von Sebastian Kurz zu bewerten, der immer damit prahlt, dass Österreich ja gerade einmal 0,2 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verursacht. Er verschweigt aber, dass wir pro Kopf doppelt so viel produzieren wie es dem weltweite Durchschnitt entspricht.
Die wenig Gebildeten, die sich gar kein eigenes Bild von der Faktenlage machen können, glaube dem, der sie emotional dort abholt, wo sie die Gesellschaft zurückgelassen hat. Und das sind nicht wenige. Weltweit, von Amerika über Brasilien, Russland, Polen, Ungarn, …… haben politische Parteien in den letzten Jahren versucht, die Schwächen der Demokratie für sich zu nutzen und die demokratischen Institutionen auszuhebeln, wo immer es geht. Auch in Österreich wird heftig daran gearbeitet. Die Angriffe auf die Justiz, die Verbreitung von Verschwörungsmythen und die damit beabsichtigte Spaltung der Gesellschaft sind geeignet, das Vertrauen in den Staat zu unterminieren, und Vertrauen ist die Grundlage der Demokratie. Wer so etwas tut, handelt antidemokratisch. Wir werden kommende Woche bei der Wahl sehen, wie weit die Bevölkerung mitdenkt und zu beurteilen versteht, wer ihnen eine Scheindemokratie verkauft und sie mit Pseudoproblemen beschäftigt oder wer bereit ist, essenzielle und langfristig notwendige Entscheidungen im Sinne aller Menschen zu treffen und wer auch als moralische Instanz tauglich ist.
*1 20.04.2021 NR – Berufsstruktur (parlament.gv.at)
Gesellschaftsstruktur der österreichischen Bevölkerung – Wikipedia
*2 Das ist die Spendenliste von Sebastian Kurz im Wahlkampf (kontrast.at)