sag was ist mit Dir nicht in Ordnung? Ich meine nicht körperlich – Du wirkst zwar in den letzten Wochen etwas aufgedunsen – aber das meine ich nicht, ich meine in erster Linie psychisch. Bei allem Respekt und allem Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse Russlands oder Dein persönliches Befinden. Ich denke Du und Deine Freunde, ihr habt doch schon alles. Die Reichtümer Russlands habt ihr unter euch aufgeteilt. Deine Freunde waren schlauer und haben ihre Vermögen krisensicher im Ausland investiert und ich glaube, dass viele von denen sogar so schlau waren, die vielen Milliarden so anzulegen, dass sie auch jetzt noch Zugriff auf ihre Kröten haben, zum Beispiel in der Schweiz. Die haben auch Pässe aus Malta oder Cypern, auch aus Österreich, wo es Part of the Game war, für viel Geld und eine zusätzliche Parteispende eine Staatsbürgerschaft zu bekommen. Die können sich vermutlich im Großteil der Welt trotz Sanktionen frei bewegen. Aber Du sitzt dann allein in Moskau. Was tust Du in Zukunft als Geächteter? Immer nur Judo, Eishockey und Bärenjagen ist auch auf die Dauer langweilig. Geht es Dir ums Prestige, willst du eine coole Sau sein, ein bedeutender Staatenlenker, der die Leiden seines Volkes versteht und mit eiserner Faust die Sehnsucht der Russen nach einem Großreich erfüllt, um in die Geschichte einzugehen? Letzteres wirst Du wohl oder übel. Aber als was?
Trotz der amerikanischen Warnungen vor einem Angriff auf die Ukraine habe ich Dich für einen guten Schachspieler gehalten. Von Michail Tschigorin und Akiba Rubinstein zu Nimzow und Allechin bis Boris Spaski, Kasparow und Anatoly Karpow und noch vielen anderen Großmeistern habt ihr Russen ja eine lange Tradition in dieser Disziplin und habt zahllosen Gegner das Fürchten gelernt. Auf dem Schachbrett. Für so einen habe ich Dich gehalten. Für einen, der viele Züge vorausdenkt und auf dem Schachbrett der Diplomatie Feld um Feld erobert, bis er die gegnerischen Stellungen umgangen hat und sein Ziel erreicht. Und wie einem Schachspieler aus der langen Tradition russischen Großmeister habe ich Dir zugetraut, dass Du ein Spiel auf hohem Niveau spielst, aber dabei immer auf der Ebene der diplomatischen Auseinandersetzung bleibst. Zugegeben, beim Schach da darf man schon einmal bluffen und Scheinattacken reiten, während man im Hintergrund seine Stellung ausbaut und die wahre Angriffslinie so lange verschleiert wie möglich. Der Bessere gewinnt und anschließend schüttelt man sich die Hände. Das haben offensichtlich auch die Ukrainer geglaubt. Menschen, die sich zwar in vielen Bereichen mit dem „russischen Brudervolk“ auf einer Linie und einer Ebene sehen, aber trotzdem nach dem Untergang der Sowjetunion beschlossen haben, eigene Wege zu gehen. Ohne Frage hatten sie ihre guten Gründe dafür und alles Recht der Welt, einen eigenen Staat zu gründen. Und die meisten Ukrainer haben bis heute Morgen geglaubt und gehofft, es geht um ein Schachspiel. Man wird sich wohl gedacht haben, dass Du genug hast, wenn Du die Ostprovinzen, die Du de facto sowieso schon hast, „befriedest“. So wie man einen Läufer opfert, um die Dame zu retten. Ich muss sagen, blauäugig wie ich bin, habe ich das auch geglaubt. Ich habe noch immer Deine Rede vor dem deutschen Parlament in Erinnerung. Damals hattest Du nicht nur meinen Respekt und Sympathie. Dein Friedensangebot, deine Hoffnung auf Zusammenarbeit mit dem Westen klangen glaubwürdig und ich frag mich, was ist seither geschehen, was ist mit Dir nicht in Ordnung? Verbirgt sich hinter Deiner Fassade ein mieser Charakter oder bist Du enttäuscht darüber, dass man dich nicht wirklich ernst genommen hat. Man hat zwar Geschäfte mit Dir gemacht – halb Europa hängt an Deinen Gasleitungen – aber so richtig dabei warst Du nie. Grund dafür war, dass Du im eigenen Land einen Raubkapitalismus unter Deiner Führung zugelassen hast und mit Deinen Oligarchenfreunden die Beute teilst, während Du jeden Opponenten verfolgst oder umbringen lässt. Das spricht eher für den miesen Charakter und ist einer der Gründe, warum man Dich bisher nicht erst genommen hat. Und jetzt erweist Du dich erst recht als einer dieser bösartigen und furchterregenden alten Männer wie es viele vor Dir zum Unglück der Welt gegeben hat, mit einem Sendungsbewusstsein, das durch nichts weiter gerechtfertigt ist als durch einen religiös überhöhten Nationalismus.
Jetzt nimmt man Dich ernst. Du hast einen Krieg begonnen – für Dich nur ein Federstrich unter einen Befehl an die Armee, für alle anderen heißt es Blut vergießen, sterben, von Granaten in Stücke gerissen und von Kugeln durchsiebt werden. Das ist für die meisten zivilisierten Menschen im 21. Jahrhundert unverständlich, ja vollkommen indiskutabel. Du trittst damit ganz weit außerhalb jene Gemeinschaft, der Du so gerne angehören möchtest und reihst Dich mit diesem Angriffskrieg bei denen ein, die in der Geschichte als Verbrecher gelten.
Sehr geehrter Herr Doktor Wassermair, so wie beim Schachspiel und beim Pocker kann man immer nur so weit denken wie man selber fähig ist Züge voraus zu planen. Momentan habe ich den Eindruck, hat Putin mit dem weniger als halbherzigen Einmarsch in die Ukraine die westliche Welt so weit provoziert um aus seiner Sicht die Atomwaffen gerechtfertigt ins Spiel zu bringen. Die Ukraine ist in dem Spiel nur eine Schachfigur. Es ist so wie beim Schach, auf eine Aktion folgt eine Reaktion. Hoffen wir dass es zu einem unentschieden kommt. Und man sich wieder die Hände schüttelt.
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